Stammbaum der Familie Jochims

Stammbaum Familie Jochims

                                                                            Ein Artikel aus  „ Deutsches Magazin“
                                                    von Christian Ulrich Detlev Freiherr von Eggers.
                                                                        Altona 16. Band v. 1798

                                                                          ( Er war Politiker und Staatsmann, dänisch-holsteinischer
                                                                         Beamter und Oberpräsident der Stadt Kiel, geb. 11. Mai 1758
                                                                                           in Itzehoe, gest. 21. Nov. 1813 in Kiel  )


                                                             Zum Andenken des Konsistionalraths Jochims.
                                                                                     ( geb. 10.Okt.1719 / gest. 7.Nov.1790)

                                                                                              ( Eine wörtliche Abschrift ! )

Unter der geringen Anzahl der Menschen, die Kraft und Anlage zum tieferen Denken haben,
sieht man gleichwohl noch manche das Ziel nicht erreichen, wozu sie bestimmt schienen, weil die Umstände ihren
Forschungsgeist nicht genug unterstützten.
Diesen fehlt es an den kräftigsten Hilfsmitteln zur ersten Entwikkelung und Ausbildung, durch deren Hülfe der Geist, noch mehr Stärke erreicht, sich mancher Fessel entschlagen hätte.
Jener hat während seines ganzen Lebens mit geringfügigen Berufs-Geschäften zu kämpfen, die sichtbar den Flug seiner Gedanken lähmen; die ihm nicht erlauben die Sphäre zu betreten, für die er eigentlich gehörte.
Diese Betrachtung wird uns immer schmerzhafter, je höher wir den Menschen schätzen, je lebhafter wir seine Würde suchten.
Es gibt kaum einen anderen Trostgrund dagegen, als die Hoffnung das Hier die Saat für ein Leben nach diesem gelegt sey; daß sich dort das Talent ganz entwikkeln werde, was hier nur keimte.

So habe ich mich oft bei dem frühen Tode vorzüglicher Männer getröstet, oder die Bekümmernis zu unterdrükken gesucht, welche ich darüber empfand, daß ein solcher Mann das nicht ward, was er hätte werden können.
Und dies Empfindung ist auch jetzt bei mir die herrenschende, da ich bei dem Publikum das Andenken eines Mannes erneuern will, der bei weitem nicht nach seinem ganzen Verdienst gekannt ist, und es auch in den Verhältnissen, worin er lebte, nicht füglich seyn konnte.
Dieser Mann ist der verstorbene Konsistorialrath und Probst Jochims in Meldorf.

Ich erfülle, indem ich sein Andenken feiere, zugleich die süße Pflicht der Dankbarkeit. Denn er war einer von den würdigen Männern, denen ich die Ausübung meines Geistes in meinen Jünglingsjahren vorzüglich zu verdanken habe.
Er las mir im Jahre 1774 Reimarus Logik. Er unterrichtete mich in der schweren Kunst die Denkkraft im Nachdenken anzuwenden; eine Fertigkeit, die man nur zu oft vernachlässigt und deren Wichtigkeit ich in späteren Jahren nur zu oft empfunden habe, ohne daß mir einmal immer der Grund gegenwärtig gewesen wäre. Auch prägte er meinem Herzen tief die Lehre ein; daß positive Religion für den Menschen überhaupt die größte Wohltat sey, wenn es auch Individuen geben solle, die ihrer entbehren könnten; und
diese Überzeugung ward mir nachher bei allen Unglücksfällen der kräftigste Trost. Wie könnte ich denn anders, als mich mit inniger Dankbarkeit des Mannes erinnern, der, ohne alle Nebenabsichten, mir eine so große Wohltat
erzeigte, weil er mich für einen Jüngling von guten Fähigkeiten hielt ?
Wie sollte ich nicht die Erwartung mit zu meinen frohen Aussichten für die Ewigkeit rechnen, ihn dort vollendet wieder zu finden, und mich mit ihm des Anschauens der Wahrheit zu freuen, die auf dieser Welt schon sein größtes Gut war, und wofür er auch mich einzunehmen suchte ?

Er war 1719 den 10ten April im Kirchspiel Marne geboren. Sein Vater war Claus Jochims, Landesgevollmächtigter und Hausmann am Fahrstädter Deiche; seine Mutter Margaretha Jacobsen aus Hembüttel.
Er zeigte früh vorzügliche Fähigkeiten und eine ausgezeichnete Neigung zu den Wissenschaften. Sein Fleis, der die Folge davon war, bewog seine Eltern, die ziemlich wohlhabende Bauersleute waren, ihn den Wissenschaften zu überlassen. Er genoß einen Schulunterricht, so gut, wie man ihn nur in jenen Zeiten erwarten konnte, wo die Summe der Weisheit in der Bildung
eines schulgerechten Theologen oder Juristen bestand. Der Rektor Wilkens in Marne unterrichtete ihn in der Religion, der Geschichte, der lateinischen und griechischen Sprache; nachher genoß er zwei Jahre lang den Unterricht des Rektors Schaver. Im Mai 1737 ging er auf die Universität Jena.
Hier studierte er viereinhalb Jahre mit ununterbrochenem Fleiße. Walch, Stolle, Tempe, Stelwagen und Halbauer waren seine Lehrer in der Theologie, Philosophie, Geschichte, Homiletik, der griechischen und hebräischen Sprache.
Er hörte auch bei Engau juristische Vorlesungen.


Vor allem war die Philosophie sein Lieblingsstudium.
Zwar war die Philosophie jener Tage jener Tage noch mit vielen Spitzfindigkeiten verwebt, welche die folgende Zeit unnötig nannte, und in Formen gehüllt, die sie als schädliche Fesseln betrachtete. Allein der denkende Kopf weis allenthalben die Goldkörner auszulesen.
Ihn beschäftigen vorzüglich die großen Ideen von der Natur der menschlichen Seele, von dem Gange ihrer Wirksamkeit, von den allgemeinen Einrichtungen in der Welt. Mit diesen Wahrheiten vertraut, erhebt sich der Geist, unter allen Umständen, zu einer Höhe, von der er, im Vorgefühl seiner künftigen Sphäre, mit Gleichmütigkeit auf den Tand herabschauet, der dem sinnlichen Menschen hier alles ist.
Und wenn auch diese beseligende Wirkung des Studiums der wahren Weltweisheit nicht gleich sichtbar wird, so vergeht doch die köstliche Anlage nicht, welche wir uns durch die selbe Beschäftigung mit demselben zu eigen machen. So trägt der Abend des Lebens die Früchte, deren Kern am Morgen gepflanzt und mit sorgfältiger Hand gepflegt ward.

Das ganze Leben des würdigen Mannes, dem diese Zeilen geweiht sind, bestätigte diese Erfahrung.

Nachdem er von der Akademie zurückkam, lebte er dreißig Jahre lang vor den Augen der Welt, nur den eigentlichen Geschäften seines Amts.
Aber als er, schon bei heranwachsenden Alter, sich entschloß, auch durch Schriften zu lehren, da zeigte es sich, wie scharfsinnig, wie ordentlich, wie deutlich sein Geist auch allgemein wissenschaftliche Begriffe zu entwikkeln, zu verbinden, darzustellen gewohnt war.
Doch hätte er vielleicht früher für den Druck geschrieben, wenn er unserer Zeit näher gewesen wäre. Bei allem Nachtheil, den die Schreibseeligkeit unserer Jünglinge erzeugt, wollen wir nicht vergessen, daß dieser Geist der Thätigkeit auch manche nützliche Werte hervorbringt.
Dem war nicht so in jenen Zeiten. Männer von tiefen Kenntnissen und reifer Beurtheilungskraft zweifelten oft lange, ehe sie ihre Untersuchungen dem Publikum vorlegten. Ihre Achtung für das  Publikum gränzte an Furchtsamkeit. Wie verschieden von dem Ton unseres Zeitalters, wo gränzlose Zuversicht und absprechende Dreistigkeit bei unseren jungen Schriftstellern, so oft den Mangel
an Einsicht und Geschmak und Urbanität, ersezzen sollen.
Wie viele Aufsäzze, meistens sehr schäzbare Aufsäzze legte hingegen dieser bescheidene Mann zurük; blos weil er immer fürchtete, sie mögten nicht reif genug seyn, nicht verdienen die allgemeine Aufmerksamkeit rege zu machen.
Wie viele Arbeiten früherer Jahre vernichtete er nachher, weil er sich von anderen übers troffen
glaubte.

Indes zeigte sich auch allerdings in seiner Amtsführung die Furcht seines anhaltenden Studiums. Seine öffentlichen Lehrvorträge zeichneten sich aus durch helle Begriffe, durch lichtvolle Darstellung, durch zwekmässige Anwendung der Religionslehren auf das Leben. In dem Unterricht der Jugend, den er stets zu seinem angelegentlichsten Geschäft machte, offentbarte sich ganz sein scharfsinniger Blik, sein eigenthümliches Talent, den Menschen zum freien Gebrauch seiner edelsten Seelenkräfte zu leiten. Auch außer dem Unterricht, der en Theil seiner Amtsgeschäfte ausmachte, gab er zu verschiedenen Zeiten, verschiedenen jungen Leuten, die sich den Wissenschafte widmeten, nähere  Anweisungen in philosophischen und theologischen Wissenschaften. Diese Beschäftigung geörte zu seinen angenehmsten. Er liebte, wie alle edlen Männer, Jünglinge von schönen Hofnungen, „ich habe nicht umsonst gelebt,“ sagte er,
„wenn ich bei einem einzigen munteren Kopfe die Denkkraft durch Uebung entwikkelt habe.“ Darum war seine Unterweisung so auszeichnend vortrefflich.
Sie war ihm zugleich Angelegenheit des Herzens, und selbst der Phantasie.
So sehr schäzte er den Verstand, und so fest war er überzeugt, daß die Kraft selbst durch die zwekmässigste Anwendung erhöhet werde. Bei der grösten Achtung für Gelehrsamkeit jeder Art, galt ihm doch die Fähigkeit über alles.
Er behauptete; man könne einen Gelehrten bilden; aber Talent müste man nur auf den Weg leiten, wo es sich selbst entwikkeln könne. Darum konnte er Stunden lang sich bei der Untersuchung eines einzigen, dem Anschein nach einfachen Sazzes aufhalten, und seinen Zögling anstrengen, diese Wahrheit aus allen Gesichtspunkten, unter allen Rüksichten, in allen Verbindungen zu betrachten; sich selbst Zweifel dagegen zu erregen, und wieder zu heben.
O wie theuer muß diese Erinnerung allen denen seyn, deren Ausbildung, wenn ich so sagen darf, er in seinem Herzen trug ! wie müssen ihre Segnungen ihm in das Grab folgen ! wie muß er dort sich des schönsten Lohns seiner Bemühungen freuen !

Bei einem Manne von solchem Geist, von solcher Liebe zur Wahrheit, von solcher unablässigen Thätigkeit für Wissenschaften, kann man nie wegen des Karakters ungewiss seyn. Ihm können gute Eigenschaften fehlen, die mit gewissen Bestimmungen der Organisazien zusammen hängen; aber er kann, in einem gewissen Sinn, keine schlimme haben. Das anhaltende Forschen in diesen Wissenschaften dämpft alle eigennützlichen Leidenschaften des Menschen, welche die Summe seiner Fehler enthalten ! Und dann hänge ich noch immer an der Idee, man müsse bei einer gewissen Stärke des Geistes nothwendig gut seyn.
Sie hilft in unseren trüben Tagen dem Glauben an den Werth der Menschheit auf. Denn sie läst mir bei den Fehlern grosser Männer den Trost, daß ihre Fehler nur durch irgend eine schiefe Richtung des Geistes möglich werden, die doch auch noch sich verlieren kann.

Dieser Mann indes besas zugleich eine Gutmüthigkeit, an der sich niemand irren konnte, der ihn irgend genau kannte. Ohne vorzügliche Lebhaftigkeit der Empfindung , äusserte er sich durch ein gewisses Wohlwollen in seinem ganzen Betragen. Sie wirkte in Verbindung mit seinem Studium eine gleiche, feste Stimmung der Seele, wobei sie vielen Anstössen auf dieser Welt unzugänglich ist. Man nennt sie Kälte, gleichsam um sie zu tadeln, aber sie ist die wahre Ruhe des Weisen. Er empfand ihre glückliche Wirkung bei manchen Vorfällen des Lebens. Dreissig Jahre lang genos der würdige Mann nur sehr mässige Einkünfte. Ja, er muste in seiner Familie, höchst traurige, anhaltende Leiden erfahren. Dennoch behielt er in kummervollen Tagen seinen Muth; verrichtete die Geschäfte seines Amts, mit einem gleichen Eifer. Ja er blieb seinem Studium, seiner Philosophie getreu und an seinem Studiertisch vergas er seine Leiden. Schon im hohen Alter, zwei Jahre vor seinem Tode brach er ein Bein. Auch diesen Unfall trug er mit Weisheit und Würde.

Sein Wirkungskreis währen seines ganzen Lebens, schien seinen Fähigkeiten und Anlagen nicht zu entsprechen. Er hätte ohne Zweifel, in einer weiteren Sphäre, jede gerechte Erwartung erfüllt. Dennoch war er vollkommen mit seiner Lage zufrieden. Er sagte mir oft: „wenn wir alles thäten, was wir vernünftiger Weise thun könnten, zu unserer sogenannten Beförderung, so müsten wir nachher uns bei der Lage beruhigen, worin wir uns gesezt sehen. Hier, nach unsrer besten Ueberzeugung, das möglichste Gute zu wirken, sey unsere Bestimmung. Nähmen wir eine Vorsehung an, so müsten wir auch glauben, daß eine höhere uns, wenigstens dem Wohl des Ganzen, nicht zuträglich wäre. Schrieben wir alles dem Zufall zu, so hätten wir wieder nicht Ursache zu klagen. Durch Unzufriedenheit mit unserer Lage hinderten wir in jedem Falle nur uns selbst, gutes zu wirken und das Gute zu genießen, das wir wirklich haben könnten. Dagegen hielte uns nichts ab, an der Vervollkommnung unserer selbst zu arbeiten. Dies sey ein weit festere Grundlage höherer Glückseligkeit in jener Welt, als ein eingebildetes grösseres Verdienst in dieser Welt, was man nicht nach dem Umfang der Wirkung, sondern nach der Freiwilligkeit der Wirkung, schäzzen müste.“
Diesen Gesinnungen getreu wollte er nicht einmal seine gewohnte Lage, mit einer, dem Anschein nach, vortheilhafteren vertauschen, als er Gelegenheit dazu hatte.

Als er im Herbst 1740 in sein Vaterland zurükkehrte, hielt er eine Jahre für den Pastor Mesner in Albersdorf dessen Predigten und Katechesazionen. Michaelis 1743 ward er von der Gemeinde zu St. Michaelis Donn zu ihrem Prediger erwählt. Hier verheirathete er sich 1744 mir Katharina Johannsen aus Marne, welche im folgenden Jahr im Wochenbett mit dem Kinde starb. Elf Jahre nachher heirathete er zum zweitenmale. Aus dieser Ehe leben zwei Söhne und eine Tochter. Auf Ansuchen der Gemeinde zu Burg, ebenfalls in Süder-Dithmarschen, ernannte ihn der König ohne Wahl 1761 zum Prediger. Zehn Jahre nachher erwählte ihn die Meldorfische Gemeinde zu ihrem Hauptprediger und der König ernannte ihn zugleich zum Kirchenprobst in Süderdithmarschen. Mit dieser Stelle erlangte er bessere Einkünfte. Auch konnte er in Meldorf seine Neigung zum Studieren mehr befriedigen, und dabei den Umgang einiger interessante Männer genießen. Zufrieden mit dieser Lage, lehnte er 1775 den Ruf zum Schlospastorat in Glückstadt ab. In der Folge ward er 1778 auch Mitglied des Examinazions Kollegit bei dem Oberkonsistorio zu Glückstadt, und 1781 ernennte ihn der König zum Konsistorialrath.

In Meldorf fing er nach schon zurückgelegtem fünfzigsten Jahre an, einige Schriften drukken zu lassen. Es sind so viel ich weis folgende:
1.)    Anleitung über die Religion vernünftig zu denken. Altona 1771.
2.)    Predigten für Landleute. Altona 1774. Zweite Auflage 1784
3.)    Anfang eines Versuchs zur Verbesserung des Unterrichts in den Landschulen der Landschaft Süderdithmarschen. Flensburg 1775. Von dem Pastor Wöldike in Walloe Stift ins Dänische übersezt.
4.)    Anleitung über die Religion überhaupt, und über die grosartige Religion insbesondere vernünftig und schriftmässig zu denken. Flensburg 1777.
5.)    Beiträge zur Beurtheilung und Beförderung des Christenthums, Flensburg, zwei Stükke 1780 und 1783. Aus dem anderen Stükke ist die Abhandlung: Jesus von Nazareth und seine Apostel hatten gute Absichten und wären ehrliche Leute, auch besonders gedruke.
6.)     Predigtentwürfe über die Sonn - und Festtage Evangelia, 3 Jahrgänge, Heide 1782, 83, 84.
7.)    Anweisung, vernünftige Christen in der Landschaft zu bilden, oder Anleitung über den auf allerhöchsten Befehl zum allgemeinen Gebrauch in den Schulen der Herzogthümer Schleswig un Holstein. Verordneten kurzen Unterricht im Christenthum zu katechesieren. Heide 1787.
8.)    Hauspostille oder Predigten über Sonn – und Festtags Evangelia, 2 Theile Meldorf 1788
9.)    Kurze Erklärung einiger Worte und Redensarten, welche in dem neuen Schleswigholsteinischen Gesangbuch vorkommen. Schleswig und Flensburg 1788.
10.)    Predige bei dem ersten öffentlichen Gottesdienst in der neuen Kirche zu Wöhrden in der Landschaft Süderdithmarschen am 1sten Sonntage nach Trinitatis, den 21sten Sept. 1787 gehalten. Meldorf 1788.
11.)    Verschiedene einzelne Predigten und Reden, die er bei besondern Vorfällen gehalten, sind einzeln gedruke.
12.)    Einzelne Abhandlungen in verschiedenen Zeitschriften theils mit, theils ohne seines Namens Unterschrift. Er wollte noch den dritten Theil seiner Beiträge herausgeben, und einige andere Abhandlungen drukken lassen; allein der Tod nahm ihn hinweg, ehe er sein Vornehmen ausführen konnte.


Diese Schriften tragen alle das sichtbare Gepräge des Forschens und ungeschmükter Wahrheitsliebe. Diejenigen welche eigentlich populär sein sollten, entsprachen ihrem Endzwek in vorzüglichem Grade. Und in allem bemerkt man das eifrige Bestreben, die Lehren der christlichen Religion vernünftig vorzustellen und ihre Anwendung auf die Moralität der Menschen einzuschärfen. Ich weis nichts treffenderes zu ihrem Lobe zu sagen, als daß beide Partheien fanden, der Verfasser sey nicht weit genug gegangen. Die, welche nur in der menschlichen Vernunft Offenbarung finde, werfen dem Verfasser vor, er hänge noch zu fest an eingewurzelte Vorurtheile und langgewohnte Täuschungen. Die, welche den Gebrauch der Vernunft bei Glaubenssachen verwerfen, hielten ihn für einen Neuerer und Hereroboten. Leider muste er selbst von dem obersten Vorgesezten der Kirche Unannehmlichkeiten erfahren, weil er ihn im Verdacht hatte, daß er die Gottheit  Christi und des heiligen Geistes, die Erbsünde, und die darauf gebäuete Vorstellung von der Versöhnung und Erlösung nicht eindringend genug Ehre.
Der Vorwurf lies sich freilich leicht ablehnen. Aber er lies in der Seele des gutmütigen und wahrhaft vorsichtigen Volkslehrers doch einen widrigen Eindruk zurück. Er ward dadurch abgehalten, eine Arbeit zu vollenden, die ihm sehr am Herzen lag. Es war eine an die Nachwelt gerichtete Darstellung seiner eigenen Überzeugung von der christlichen Religion. Er hat oft mit mir darüber gesprochen. Ich habe sogar in späteren Jahren Blätter davon gesehen. Plan und Ton waren ungefähr wie in Reinhards bekannter Schrift. Resultat meines fünfzigjährigen Nachdenkens über die Lehre Jesu. Allein diese Arbeit wäre noch weit anziehender für den Philosophen geworden. Verschiedene der schwierigsten Lehren der christlichen Religion, wovon auf eine für die Vernunft so befriedigende Art vorgestellt, daß man dem Verfasser kaum seinen Beifall versagen konnte. Zwar wird man keine strenge Orthodorie in einer, an die Nachwelt gerichteten Schrift erwarten, allein was in der Religion für Bedürfnis zur menschlichen Glückseligkeit gelten kann, war mit eben so viel Scharfsinn als Wärme in einem mehr als natürlichen Lichte gezeigt. Man ward, indem man las, hingerissen, eine Offenbarung zu wünschen, und diesen Wunsch in den als wesentlich aufgestellten Punkten der christlichen Religion erfüllt zu glauben. Wie sehe, ist es nicht daher zu bedauern, daß der würdige Greis seine Laufbahn nicht noch durch dies verdienstliche Werk krönte !

Aber seine Schriften athmeten dennoch nicht ganz den Geist, der sein Gespräch mit auserlesenen Freunden beseelte. Vielleicht hielt ihn eine geheime Furcht zu viel zu sagen, zurück; eine Gesinnung die seinem Herzen Ehre machte, und in seinen Jahren in seiner Lage, nur natürlich war. Vielleicht legte ihm auch die Sprache Fesseln an; denn er besas nicht das Talent der Deutlichkeit und Leichtigkeit des Vortrags, in eigentlich wissenschaftlichen Gegenständen.
In der Unterredung, auch in seinen Briefen, war er wirklich freier. Und er theilte sich denen, die er als Freunde erprobt hatte, sehr gern, und ohne Rükhalt mit.
Seine anscheinende Kälte verschwand ganz in der traulichen Unterhaltung. Man sah es ihm an, wie freundschaftlich sein Herz war, wenn er sich verstanden wuste, und glaubte, sich hingeben zu können.

 
Und der Himmel gab ihm in den lezten zwanzig Jahren seines Lebens einen solchen Freund. Es war mein verehrenswürdiger Oheim, der Konferenzrath und Landvogt Eggers zu Meldorf. Dieser vortrefflicher Mann, in dem ich das Bild eines Weisen vollkommener, als bisher in irgend einem, den ich kannte, abgedrükt sah, hatte eben eine solche Liebe zum Studium der Philosophie. Beide Freunde theilten einander ihre Gedanken über ihre Lektüre mit; und sie lasen beide bis an ihr lezten Tage alle wichtigen philosophischen Schriften unserer Zeit. Es war ihnen der höchste Genus, die Bemühung des Forschens zu theilen, und nachher wenn sie zusammen kamen, die Resultate zu vergleichen. So wird edlen Menschen die Freundschaft ein neues Mittel zu ihrer Ausbildung.
Auch genossen beide dies Glük fast bis an ihr Ende.
Jochims, der dreizehn Jahre jünger war, als mein Oheim, sagte mir ziemlich bestimmt, er werde ihn nicht lange überleben. Er, der sonst keine feurige Einbildungskraft hatte, konnte sich dennoch gewisser Phantasien nicht erwehren. Der durchaus vernünftige Mann glaubte nicht nur fest an Ahnungen, an Vorhersehungen der Zukunft ----- er hing sogar an Visionen. Er hat mir mehrere Geschichten der Art erzählt, die ihm selbst begegnet waren. Sein Verstand verwarf alles übernatürliche darin. Er sah durchaus den Erfolg nur für zufällig an. Allein bei allen, hatte er ein dunkles Gefühl des Glaubens, das allen Vorstellungen der Vernunft troz bot. In früheren Jahren hatte ihn diese Wahrnehmung oft beunruhigt. Allein er erlangte nach und nach so viel Stärke, daß er diese Schwachheit ganz beherrschte. Sie hatte auf seine Handlungen nicht den mindesten Einflus; auch keinen irgend bemerkbaren auf seine Vorstellungen. Dennoch hielt er das Phänomen für gefährlich. Noch, als ich den Winter von 1782 bis 1783 in Meldorf lebte, lies er sich beim Abschiede von mir versprechen, daß ich die Geschichten nie jemand mittheilen wolle. Ich habe nachher, besonders nach seinem Tode, dem möglichen Grunde vielfältig nachgedacht. Die Bemerkung an mir selbst, daß ich bei Fiebern mich nicht enthalten kann, ungereimte Dinge zu sagen, ob ich gleich beim Anfang der Phantasie, selbst fühle, daß ich nicht meine volle Besinnung habe, bringt mich auf die Vermutung, daß die Schuld in der Organisazion liegen müste.
Und wirklich ---- Jochims hatte in seinem, sonst verstandvollem Auge, zuweilen etwas starres. Aber ich bin zu wenig bekannt mit der Antropoldgie, und zu arm an Erfahrung, um irgend entscheiden zu wollen. Vielleicht veranlast diese Stelle, einen psychologischen Arzt unter den Lesern des Magazins, die Sache in ein helleres Licht zu sezzen. Sie ist uns langbar interessant, in mehr als einer Rüksicht, wenn ich auch die genauere Bekanntschaft mit dem Karakter dieses Mannes nicht in Anschlag bringe.

Und das Vorgefühl seines Todes ward bestimmter, je mehr sich sein Ende näherte. Als ich im Jahre 1788, nur nach einem kurzen Besuch von ihm Abschied nahm, sagte er mir: er glaube zwar, wir würden uns noch wieder sehen, allein gewis nicht mehr so, wie diesesmal. Von diesem Gedanken durchdrungen, lud er sich noch selbst ein, den lezten Mittag mit mir bei meinem Onkle zuzubringen. Wir waren allein, er, mein Onkle und ich. Es war der Schwanengesang der beiden Greise an ihren Schüler.
Beide, Jochims zumal --- denn mein Onkle drükte schon zu sehr die Nähe der Trennung ---sprachen über die Gegenstände, die für den Menschen die wichtigsten sind, mit einer Innigkeit, wie die Phantasie sie etwa Wielands Eremit leihet. Nach dem Essen zog mich Jochims ans Fenster, „So wie diese Tage über, mein Freund, werden wir in dieser Weise nicht wieder über Philosophie und Religion mit einander reden. Es ist also so gut, als ob ich für immer Abschied von Ihnen nehme. Bleiben Sie stets den Grundsätzen getreu. Ich erwarte Sie nun in jener Welt“.

Und dem Greise flossen die Thränen die Wangen herab; köstliche Thränen des edelsten Gefühls, was die Menschheit kennt, der reinen Freundschaft. Oh ich Glücklicher ! Wie viele sind mir schon dorthin vorangegangen, die mich jubelnd empfangen werden, wenn, am Ziel meiner mühseligen Laufbahn, der Todesengel mich zu ihnen bringt. Du meine fromme Mutter, mein Oheim, Jochims, Vater Münter, meine Schwiegerin, mein Bruder Dau, und Du, meine ewig geliebte Gattin, deren schöne und zarte Seele schon hier der vollkommneren Welt angehört.
Ich hoffe dennoch, mein Oheim und Jochims so wieder zu sehen, wie ich sie verlassen hatte. Soll ich es sagen?  Ich habe immer etwas darin gesucht, jede Art der Prophezeihung wo möglich zu entkräften. Aber es ist mir nicht gelungen, wenn es mich mit anging.
Ich wollte im Jahre 1789 nach Deutschland, und also auch wieder nach Holstein reisen. Allein die Lage der Angelegenheiten des Reichs, sezte, in meinen Verhältnissen, meiner Reise Hindernisse im Wege. Sie ward erst ausgesezt, und unterblieb nachher ganz.

Unterdes erhielt ich öfters gute Nachrichten. Ich Zweifelte nicht mehr daran, meine Meldorfer Freunde wohl wieder zu finden, wenn ich, mit meiner damals neu verheiratheten Frau, im Sommer 1790 sie besuchen würde.
Im März ward mein Oheim krank, und nahm, zwar abwechselnd aber doch anhaltend ab. Als ich im August 1790 nach Meldorf kam, fand ich ihn schon sehr schwach. Für seine völlige Genesung war keine Hofnung mehr; für seine Erholung nur sehr geringe Hofnung. Diese Veränderung, die Trauer über die Schwäche des weisen Mannes auf dem Todbette, die Sorge, den traurigen Eindruk bei meiner jungen und sehr gefühlvollen Frau zu mässigen ---- das alles stimmte freilich den Geist nicht mehr zu den Unterhaltungen, die ich sonst mit dem würdigen Jochims zu haben pflegte. Sein gesenkter Blik, seine fast finstere Stille, sagten mir deutlich genug, was er erwartete. Auch litt er selbst durch die Leiden seines Freundes. Er war so oft um ihn, als die Umstände es zuliessen. Aber es kostete ihm viel den Gedanken zu tragen, daß dieser grosse Mann nur erst allmählich durch ein schmerzhaftes Krankenlager dahin sterben müste, und daß er dabei den Tod fürchtete, womit er sich seit Jahren fast jeden Tag beschäftigte.

Ich verlies meinen Oheim zwar schwach, aber nicht ohne Hoffnung. Nach Aussage der Aerzte lies sein Zustand es mit Gewisheit erwarten, daß ich ihn nach meiner Zurükkunft von Hamburg noch wieder sehen würde. Eben um deswillen nahm ich von niemand, auch nicht von Jochims, Abschied.

Nicht lange nach meiner Abreise, ward sein Befinden schlimmer. Ich eilte nach Glükstadt. Als ich am Morgen darauf allein nach Meldorf reisen wollte, um ihn wenigsten noch am Leben zu finden, kam in der Nacht ein Bote mit der Todesnachricht.


Jochims bewarf seines Freundes Leiche, nach dem Kirchengebrauch mit Erde.
Er hielt ihm auf dem Kirchhofe, mit der innigsten Rührung, eine kurze Gedächtnisrede. Es soll ein herzergreifender Anblik gewesen sein. Eine zahlreiche Menge von Menschen mischten ihre Thränen mit den seinigen. Er erwartete nun seinen eigenen Tod als sehr nahe. Und wirklich, überlebte er seinen Freund nicht drei Monate. Er starb am 7ten November 1790 in einem Alter von 71 Jahren und 7 Monat.
Nach meines Oheim Tode nahm die Munterkeit seines Geistes stufenweis ab. Er konnte sich nicht mehr mittheilen. Einen einzigen Freund, an den man sich fünf und zwanzig Jahr gewöhnt hat, kann man in dem Alter nicht mehr verlieren. Vielleicht sagte er mir seinen Tod auf diesen Fall vorher, weil er das voraus sah.
Sogar mehrere seiner Bekannten sagten nach meines Oheims Tode: nun werde auch Jochims nicht lange leben. So urtheilt der Mensch oft richtig nach dunklen Gefühlen, deren Grund er sich nicht entwikkeln kann.

Indes schien er sich körperlich ganz wohl zu befinden. Auch verrichtete er alle seine Amtsgeschäfte mit seiner gewohnten Thätigkeit.
Noch an seinem lezten Lebenstage , den 7ten Nov. am 23sten Sonntage nach Trinitatis, hielt er seine Predigt ohne Beschwerde. Er ging aus der Kirche nach Hause; as zu Mittag mit seiner Familie.
Plözlich verspürte er Beklemmung in der Brust. Sie wurden stärker, aber nach einem Aderlasse hörten sie ganz auf.
Er war den Nachmittag vollkommen heiter, und unterhielt sich mit verschiedenen guten Freunden. Abends um 9 Uhr legte er sich ruhig zu Bette. Er schlief sanft ein, und erwachte nicht wieder.
 
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